28. April bis …solange es eben währt
28.4.- 2.5. Der Mensch denkt, aber Gott lenkt
28.4. – 2.-5. Der Mensch denkt,
aber Gott lenkt
28.4. Maskerade
Seit heute weiß ich sicher, dass meine Rücken und Beinschmerzen nicht durchs Welpen-Treppen-Tragen verursacht wurden. Kein Wunder, habe ich sie ja auch schon seit Mitte Februar, lange, bevor wir Kuyo zu uns holten.
Irgendwo hatte ich gelesen, dass Menschen während dieser Corona-Ausnahmetage selbst mit Symptomen von Herzinfarkt oder Schlaganfall immer seltener zum Arzt gingen oder ihre Kinder zu anstehenden Untersuchungen und Impfterminen brachten, aus Angst vor Ansteckung. Wie blöd ist das denn, hatte ich noch kurz gedacht, bevor mir klar wurde, dass ich unter normalen Umständen auch schon längst etwas mehr als alte Hausrezepte und Übungen ausprobiert hätte, um meine Schmerzen zu lindern.
Ende vom Lied: Bei zwei Arztbesuchen und zwei Untersuchungen in verschiedenen Krankenhäusern durfte ich gestern und heute aus nächster Nähe den faszinierenden unterschiedlichen Umgang mit Abstandsregeln, Maskentragen und allgemeiner Hygiene in direkter Anschauung vergleichen. Mit Maske darf man sich doch so nahe kommen wie es irgend geht, oder? Wo genau gehört die Maske überhaupt nochmal hin? Einfach über ein Ohr gehängt? Ans Kinn? Nur über den Mund, wahrscheinlich. Eigentlich reicht es doch aber auch, sie locker in der Hand zu schlenkern, finden wohl manche. “Wenn ich mir jetzt nichts eingefangen habe, hab ich wohl doch ein ganz gutes Abwehrsystem,” erzähle ich meinem Bruder am Telefon.
2.5. Bedenke wohl, was du dir wünscht
… es könnte in Erfüllung gehen. Diesen Spruch habe ich an anderer Stelle hier im Tagebuch schon einmal notiert. Wegen meiner Schmerzen hatte ich mir schon hin und wieder mal in den letzten Tagen gewünscht, einmal einen ganzen Tag gar nichts tun zu müssen, einfach nur so „abzuhängen“. Aber mit “Rücken” muss man ja in Bewegung bleiben, und so habe ich mir auch für diesen Morgen Einiges vorgenommen. Schnell mit Kuyo ein bisschen morgendliche Welterkundung, jetzt, wo es nach dem lang ersehnten Regen so herrlich frisch aussieht und riecht. Kuchen backen, dann die nächsten Abschnitte vom Tagebuch schreiben, wahrscheinlich im Stehen. Letzteres schon von einigen treuen Leser*innen angemahnt, aber wegen meines immer schlechter werdenden Sitzvermögens bisher aufgeschoben.
Um kurz nach 9 Uhr mache ich mich mit Kuyo auf den Weg, während mein Mann kurz einige Einkäufe erledigen will. Ich bin mit festem Schuhwerk und regendichter Jacke ausgestattet, bewege mich durch den Garten nach unten zum Ausgang, Kuyo ein paar Meter vor mir, freudig wedelnd. Grade überlege ich noch, welchen kleinen Weg wir heute nehmen wollen, als das passiert, was mich jetzt für die nächsten Wochen abhalten wird, überhaupt Wege zu erledigen: Ich rutsche aus, kann mich nicht fangen, falle und empfinde fast augenblicklich die schlimmsten Schmerzen meines doch schon recht langen Lebens.
Kuyo hört meinen Schreckensschrei, kommt zurück, sieht mich am Boden und setzt sich vorsichtshalber erst einmal auf meinen Oberkörper. Ich merke, dass ich auch ohne den auf mir sitzenden kleinen Hund keinerlei Chance habe, aufzustehen und rufe nach meinem Mann. Glücklicherweise ist er noch nicht abgefahren, hört mich sofort und eilt herbei. Was jetzt am besten tun, überlegen wir, während ich noch am Boden liege. Die Schmerzen treiben mir die Tränen in die Augen. Mir ist völlig klar, dass in meinem Bein irgendetwas grandios kaputt gegangen sein muss. Mein Mann holt mir die Unterarmstützen aus dem Keller, lange aufbewahrt und glücklicherweise selbst in den Corona-Aufräumwahn-Zeiten nicht entsorgt.
Mühsam komme ich mit seiner und ihrer Hilfe zurück in die Vertikale, an Auftreten ist nicht einmal zu denken, sein Versuch, mich zu tragen, entlockt mir Schmerzensschreie. Der Gedanke, es bis ins Auto zu schaffen, um ins Krankenhaus zu fahren, treibt mir zusätzlich Angstschweiß auf die Stirn. Mein Mann versucht, einen Krankenwagen zu organisieren. Immer wieder hören wir die Stimme vom Band des zentralen hausärztlichen Notdienstes, man solle ja 112 oder 110 nur in lebensbedrohlichen Situationen wählen; alle möglichen Ansagen, was bei Verdacht auf Corona zu tun sei, und: “Haben Sie Geduld, alle Leitungen sind belegt”. Wir können gar keine Geduld haben, vor Schmerzen ist mir schon ganz schlecht. Nach einer gefühlten Ewigkeit ohne Erfolg und ohne, dass wir eine andere Nummer finden, entscheiden wir, doch mit dem eigenen Auto ins Krankenhaus zu fahren. Irgendwie bekommt mich mein Mann ins Fahrzeug , ohne dass ich ohnmächtig werde. Kuyo wird in seine Kiste hinten verfrachtet, er kann ja noch nicht längere Zeit allein bleiben. Dieses Mal knurrt er auch nicht wie grade eben erstmalig in seinem jungen Leben, als mein Mann ihn aus meiner Nähe entfernte.
Ich hüpfe mühsam auf einem Bein an den Krücken ins Krankenhaus, während mein Mann das Auto parkt. Wir wissen ja, dass er wahrscheinlich ohnehin nicht mit Hinein darf, und vereinbaren, über Mobiltelefon in Kontakt zu bleiben.
Glücklicherweise hatten wir Masken im Handschuhfach. Der Pförtner beendet in Ruhe sein privates Gespräch, ich erkläre, so gut ich kann: “Ich glaube, ich habe mir ein Bein gebrochen, ich muss in die Notfallambulanz”. “Was wollen Sie? Ich verstehe kein Wort, nehmen Sie mal die Maske ab!” Was bleibt mir übrig? Ohne Maske wiederhole ich den Satz. “Sie müssen hier gar nichts. Als erstes gehen Sie zum hausärztlichen Notdienst, um die Ecke, rechts runter, da warten Sie, fängst um 10.00h an!” “Aber, ich kann…”, versuche ich zu entgegnen. “Nichts da, rechts runter, noch einmal sage ich es nicht!”.
Ich kann sowieso nicht mehr klar denken und füge mich, bedanke mich für die freundliche Behandlung, mobilisiere meine letzten Kräfte und hüpfe weiter, jede Bewegung ist mit schier unvorstellbaren Schmerzen verbunden.
Beim Warten kann ich das Stöhnen nicht unterdrücken, andere Wartende schauen mich irritiert an. Die diensthabende Hausärztin kommt glücklicherweise pünktlich, schreibt auch nach kurzem Blick auf mein Bein umgehend die Überweisung für die Notfallambulanz. Die Helferin gibt dort persönlich meine Unterlagen ab, während ich hinterher hüpfe, so gut es geht, und mich schließlich vor der geschlossenen Tür mühsam auf einen Stuhl sinken lasse. Drei andere sitzen dort schon – wir alle bekommen die Ansage, es könne aber dauern. Die Wartezeit gibt mir Gelegenheit, mit zu hören, wie der Pförtner auch andere Patienten ähnlich freundlich behandelt wie mich zuvor. Meinen Mann hatte er erwartungsgemäß ohnehin rüde abgewiesen, schreibt dieser mir.
Bis ich eine Ärztin in der Notfallambulanz sehe, werden schließlich rund zwei qualvolle Stunden vergehen. Dann aber geht alles sehr schnell, Anamnese, Schmerztropfen, Röntgen, Diagnose, Besprechung, Entscheidung, umgehend zu operieren. Alle sind sehr nett und kompetent.
So wird es auch bleiben in den nächsten zwei Tagen im Krankenhaus. Hier habe ich sie nun, die Ruhe, nach der ich mich kurzfristig gesehnt hatte, ohne zu ahnen, auf welche Weise dieser Wunsch umgehend erfüllt werden würde.
18. bis 24. Lahm gelegt
Jetzt gibt es Lockerungen im alltäglichen Leben mit der Pandemie, aber ich befinde mich trotzdem in einer Art Quarantäne-Blase, wenn auch nicht Virus-bedingt.
Fast den ganzen Mai über habe ich trotz gegenteiliger Ankündigung nichts geschrieben. Nicht etwa aus Faulheit. Aber die Folgen meines Sturzes gepaart mit „Rücken“ haben mich buchstäblich lahmgelegt, das Sitzen und somit das Schreiben fallen schwer, Laufen ist ohnehin nur mit Stützen und den wenigen 10kg Belastung erlaubt, mein Bewegungsradius ist extrem eingeschränkt, mein Gehirn teilweise benebelt, Erlebnisse außer mit Physiotherapie und Arztbesuchen verbunden sind praktisch nicht existent – sporadische liebe Besuche und wohltuende Grußbotschaften einmal ausgenommen- und an Kuyos Leben außerhalb der vier Wände kann ich im Wesentlichen nur durch die Erzählungen und Fotos meines Mannes teilhaben.
Er immerhin, der ehemalige Welpe, der jetzt schon viel zu schnell zum Junghund geworden ist, hat seinen Horizont nochmals wesentlich erweitern können, hat mit Kühen Schnauze an Schnauze an der Weide hinter unserem Haus Anblasen praktiziert, mit anderen Welpen in der Gruppe getobt, Tauchen in Wasserschüsseln nach für uns unsichtbaren Objekten geübt und lernt jetzt fleißig in der wieder geöffneten Hundeschule. Ach, und bevor ich es vergesse: auch Bahnhöfe, selbst den in der Kreisstadt, hat er nun kennengelernt, und das nicht nur, weil es zum Lernprogramm für Hunde einfach dazu gehört.
Vielmehr meinte ich in einem meiner periodisch wiederkehrenden Anfälle von absoluter Selbstüberschätzung einen wegen Corona schon zwei Mal verschobenen dringenden Termin in Berlin unbedingt wahrnehmen zu müssen. Diese mehr oder weniger einbeinig absolvierte anstrengende Auto-Zug-Taxi- Kurzreise mit Zwischenstopp in meiner Berliner Wohnung verschaffte mir aber immerhin ein bisschen Abwechslung und eigene Beobachtungen in der Außenwelt.
Schluss mit International
„Bitte benutzen Sie bevorzugt die Fensterplätze“ – diese Ansage kommt im ICE von Hildesheim nach Berlin, und auf der Hinfahrt funktioniert das recht gut. Der Wagon ist weitgehend leer, alle sitzen weit auseinander, brav mit vollem Mundschutz, so wie vorgeschrieben. Mir fällt auf, dass wir jetzt auch in der Bahn, nach der Schließung der Grenzen, sehr national, um nicht zu sagen provinziell geworden sind. Die längst zur Gewohnheit gewordenen, sogar buchtitelgebenden Ansagen (Thank you for travelling with Deutsche Bahn) in Englisch gibt es nicht mehr, offensichtlich ist man der Meinung, es reise niemand, der kein Deutsch versteht. Aber kontrolliert wird dafür wieder, anders als bei meiner letzten Zugreise zu Beginn der Krise.
Die schmalen Tritte bei den Türen des ICE erschweren mir mit meinen Unterarmstützen wie beim Einsteigen auch das Aussteigen in Berlin ganz erheblich, fast stürze ich auf den Bahnsteig. Da vermisst frau tatsächlich die Menschenmassen, die normalerweise als natürlicher Aufprallschutz fungieren. Der Weg zum Aufzug und dann durch den großen Hauptbahnhof bis zum Taxistand wird gefühlt zur ersten Etappe des in diesem Jahr ausgefallenen Berlin-Marathons.
Besser als ihr Ruf
Über die Unfreundlichkeit der Berliner Taxifahrer kursieren viele Anekdoten. Einiges davon kann ich bestätigen, auch wenn ich fast immer die öffentlichen Verkehrsmittel nutze. Aber Viele sind erheblich besser als ihr Ruf, und ich habe schon immer wie in anderen Städten auf der Welt viel von ihnen erfahren und gelernt. So erinnere ich die Begegnung mit dem jungen zweifachen deutschen Familienvater, dessen Großeltern aus der Türkei eingewandert waren, der mir fast unter Tränen erzählte, er habe immer in der Freizeit gern Ausflüge mit den Kindern in die Umgebung unternommen, dies aber aufgrund der rassistischen Übergriffe vollständig eingestellt; ja, er und seine Frau überlegten gar, auszuwandern, wüssten aber überhaupt nicht, wohin.
Ein anderer, ursprünglich Ingenieur im Iran, wies, nachdem wir uns während der Fahrt über seinen Hintergrund und meine Arbeit unterhalten hatten, mein Trinkgeld zurück – das war mir noch nie passiert. Sein „Nein, von Ihnen nehme ich nichts, danke, dass Sie zugehört haben, und bitte machen Sie weiter mit dem, was Sie tun!“ trieb wiederum mir fast Tränen in die Augen.
Jetzt, mit meiner Behinderung, helfen mir die insgesamt drei Fahrer und eine Fahrerin ganz selbstverständlich und freundlich. Schlecht gehen ihre Geschäfte, erzählen sie auf Nachfrage, natürlich in diesen Zeiten. Nicht bedacht hatte ich, was mir einer mitteilte: Bei den derzeit geschlossenen Kneipen und Hotels sei es für sie so schwierig, besonders in der Nachtschicht, ihre Notdurft zu verrichten.
Drei tragen wie ich eine Maske, der eine ohne sagt mir, es sei für Fahrer*innen verboten, eine Maske zu tragen, sie müssten jederzeit identifiziert werden können, wenn sie z.B. einmal in einen Blitzer gerieten…hm, denke ich. Immerhin hat er die Fenster während der Fahrt weit geöffnet. Masken – das wird mir auch zum Thema auf der Zugrückfahrt.
Solidarität?
Der Zug auf der morgendlichen Rückfahrt nur einen Tag später ist voller, interessanterweise kommt auch die Durchsage mit den Fensterplätzen dieses Mal nicht.
Eine junge gepflegte Frau am Vierertisch hinter mir macht sich im Gespräch mit ihrem Begleiter über all die Idioten mit der Maske in der U-Bahn lustig. Die beiden unterhalten sich lautstark und angeregt – ich sehe, dass beide trotz der Maskenpflicht im Zug keine tragen. Während ich noch überlege, wie ich sie am besten freundlich darauf hinweise, dass ich keine Lust habe, mir möglicherweise ihre Viren einzufangen, nähert sich die Schaffnerin. Schnell pfriemeln die beiden ihre Masken auf und noch schneller ab, sobald ihre Fahrkarten kontrolliert wurden.
Ich fasse mir ein Herz und wage zu sagen: „Entschuldigung, aber Maskenpflicht gilt die ganze Zeit, nicht nur, wenn die Schaffnerin kommt“, und bekomme als Antwort:
„Ach, so ist das, wir werden überwacht! So weit sind wir schon wieder – Stasimethoden!“ Aber sie setzen jetzt wenigstens die Masken auf.
Ein älterer Mann hat eine der Supermasken mit Filter. Er steht auf, die Maske unterm Kinn, hustet erst einmal in meine Richtung und schiebt sie erst, als er meinen Blick sieht, hoch – über den Mund, die Nase bleibt frei. Ein kleines Kind an der Hand der Mutter niest direkt neben mir im Gang.
Braunschweig, neue Passagiere, hinsetzen und Maske runterziehen sind eins, und jetzt erst einmal telefonieren…
Kuyo und mein Mann holen mich ab und sind sichtlich genauso froh wie ich, dass ich zurück bin. Wieder zu Hause, sehe ich einen Bericht über Michael Soi, einen Künstler aus Kenia, der in seinen bunten Bildern festhält, wie brutal die Polizei die Einhaltung der Corona-Regeln kontrolliert. Er erzählt, dass es in den ersten Wochen mehr Tote durch die Polizeimaßnahmen als durch das Virus gegeben habe.
In der Heimatzeitung sehe ich das Foto von einer leitenden Persönlichkeit, die zur Verabschiedung die Hand des Scheidenden schüttelt. Menschlich nur zu verständlich, diese zugewandte Geste, aber leider ein so schlechtes Vorbild, denke ich. Und schäme mich gleichzeitig, dass auch ich durch meinen Kurztrip eigentlich ein absolut vermeidbares Risiko nicht nur für mich selbst eingegangen bin. (mp)
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