Eine andere Zeit

1.12.2020

Liebe Leserinnen und Leser, 

eine bekannte Alfelder Rechenformel geht so: Nikolaustag, bekanntlich immer der 6. Dezember, in diesem Jahr ein Sonntag, plus x Tage bis zum darauffolgenden Donnerstag – in diesem Jahr der 10. Dezember – ergibt: Tag des Jahrmarktes. Ausnahmeregel: Fällt der Nikolaustag auf einen Donnerstag, dann ist natürlich gleich dieser Donnerstag der Jahrmarkttag. 

Aber in diesem Jahr gilt eine andere Ausnahme: Der traditionelle Alfelder Jahrmarkt findet gar nicht statt. Nicht zum allerersten Mal seit erster belegter Erwähnung aus dem Jahr 1388. Auch in den Jahren von 1942 bis 1945 gab es keinen Jahrmarkt. Jahrmarkt in der Region bedeutet ja nicht nur Markt, sondern Feiern, Tanz und Ausgelassenheit. Wie weltweit bot sich aber bedingt durch den 2. Weltkrieg damals ebenfalls in Alfeld kein Anlass zu großer Freude. 

Wegzudenken ist der Jahrmarkt nicht aus den Kindheitserinnerungen aller Menschen aus dem Leinebergland. Jede Generation hat eigene Bilder im Kopf. Dazu zählen Bratwurst mit Senf auf Pappe, Luftgewehrschießen, Lebkuchen-Herzen mit Sprüchen wie „Hab Dich lieb“, was als Liebesbeweis und auch Aufforderung zur Selbstliebe gelten kann. Immer war der Jahrmarkt auch für die Heranwachsenden eine Möglichkeit, jemanden näher kennenzulernen. Keinen guten Morgen, guten Tag ruft man einander an diesem Tag zu, nur „Prost Jahrmarkt!“. Das Karussell, das Geschiebe in der Holzer- und der Marktstraße. Die Stände mit völlig nutzlosem Kram, der auch immer Käufer*innen fand, und der Billige Jakob, bei dem es allerhand Nützliches gab. Und natürlich der Nikolaus mit Bischofsmütze und -stab. 

Dessen weißer Rauschebart vor Mund und Nase würde in diesem Jahr vielleicht noch als Mund-Nasen-Schutz durchgehen. Aber natürlich wird der Jahrmarkt 2020 nicht stattfinden. 

Corona ist schuld. Und es ist selbstverständlich, dass dafür auch alle Feierwütigen und Traditionaliste*innen Verständnis haben.  Selbst, wenn es wirklich schwer wird, auf den Glühwein der Pfadfinder zu verzichten, auf den alkoholfreien Punsch, auf die Erbsensuppe des Lions-Clubs und so vieles andere. 

In diesem Ausnahmejahr 2020 mussten viele von uns lernen, was es bedeutet, wenn sich das Leben, so wie wir es kennen; in dem wir uns eingerichtet haben, mehr oder weniger bequem; das wir mal mehr, mal weniger lieben, plötzlich so nicht mehr gibt. Menschen, die Gewalt, Krieg, Flucht, Vertreibung und rassistische Verfolgung miterleben müssen, haben das auf leidvolle Weise immer schon erfahren, auch zu Zeiten des Alfelder Jahrmarktes. Bei dem erhofften sich Menschen in früheren Jahrhunderten übrigens auch Heilung von allerlei Krankheit und Pestilenz durch Barbiere, Chirurgen und Bader.

Radikalismus, Gewalt und Klimawandel werden auch im kommenden Jahr leider weiter Anlass geben, sich entschieden dagegen zu positionieren und zu engagieren. Aber wir können wohl mit der Hoffnung auf Weihnachten und auf das Neue Jahr zugehen, dass wir wenigsten eine Seuche, die uns global alle trifft, bald in den Griff  bekommen – durch unser Verhalten und entsprechende Impfungen.

Vielleicht bieten die bevorstehende Advents-und Weihnachtszeit sowie der Jahreswechsel, die auch so ganz anders sein werden als gewohnt, die Chance, darüber zu reflektieren, was uns eigentlich wirklich wichtig ist im Leben. Ziemlich sicher gehören dazu lebendige Innenstädte, mit vielseitigen Straßen durch aktive Bewohner*innen, von denen wir einige auch in dieser Ausgabe wieder vorstellen.

Viel Spaß beim Lesen, beim Schwelgen in Erinnerungen und einen immer zuversichtlichen Blick nach Vorn wünscht

Ihre SIEBEN:
Bleiben Sie gesund

Quelle: Ina Gravenkamp, Museumsleiterin, in: „Alfeld im Industriezeitalter“, 2008

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